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20.05.2019 09:59 Uhr

Das "Wunder von Bochum": Auch Schiedsrichter Dr. Markus Merk ist am 26. Mai dabei

Am Sonntag kommt es endlich zum großen Wiedersehen der Hansa-Legenden von 1999. Damals siegte das Team um Trainer Andreas Zachhuber am letzten Spieltag mit 3:2 in Bochum und sicherte so den Klassenerhalt. Das "Wunder von Bochum" war geboren und feiert nun 20-jähriges Jubiläum. Einer, der damals ebenfalls auf dem Platz stand ist Dr. Markus Merk. Der heutige Sky-Experte leitete die Partie als Schiedsrichter und wird auch am Sonntag um 15:30 Uhr wieder zur Pfeife greifen und das Wiedersehen leiten.

Guten Tag Herr Dr. Merk, war Ihnen vor dem Spiel 1999 eigentlich bewusst, was für einen dramatischen Verlauf der gesamte Spieltag an diesem 29. Mai nehmen könnte?

Dr. Markus Merk: "Wenn man in einen solchen letzten Spieltag geht, dann weiß man schon, dass es um was geht. Und ich hatte das große Glück, dass ich zu meiner aktiven Zeit auch immer für wichtige Spiele am letzten Spieltag im Einsatz war. Man weiß um die Emotionen, wenn es um Meisterschaft oder Abstieg geht. Ich selbst komme aus einer Region, in der Fußball mit Leidenschaft gelebt wird, wo immer hohe Emotionen im Spiel sind, weil eine ganze Region hinter dem Verein steht. Und dessen war ich mir auch 1999 bewusst, was es für die gesamte Region um Rostock bedeutet hat, weil ich den Verein in den beiden Jahrzehnten meiner Karriere immer ein bisschen beobachtet habe und kaum eine Stadt mit so einer Entwicklung wahrgenommen habe."

Haben Sie auf dem Spielfeld mitbekommen, wie sich die Ereignisse auf den anderen Plätzen plötzlich überschlagen haben und in den letzten 20 Minuten gleich mehrfach der Absteiger wechselte?

Dr. Markus Merk: "Man fokussiert sich in erster Linie nur auf das eigene Spiel, aber im Laufe der Partie spürt man schon, an der Hektik der Spieler und was sie sich untereinander erzählen, dass es plötzlich um eine Menge geht. So war es auch hier, man bekommt die Emotionen mit, die da hochkochen, und versucht diese zu kanalisieren. Irgendwann kommt die 90. Minute mit den letzten Chancen, die man nutzen muss oder man ersehnt den Abpfiff herbei. Was meinen Sie, wie es mir zwei Jahre später erging, als ich 2001 beim Spiel HSV gegen Bayern einen Freistoß in der 90. Minute gepfiffen habe, der die Bayern zum Meister gemacht hat… Anschließend gab es unfassbare Tränen auf Schalke, weil die sicher geglaubte Meisterschaft noch aus den Händen glitt. Sowas bewegt mich natürlich auch, aber ich kann da nichts machen – ich gehe auf den Platz, um als Schiedsrichter Entscheidungen zu treffen. Und Entscheiden heißt immer „für oder gegen eine Partei“ zu sein und Freud und Leid liegen dann immer sehr oft dicht beieinander."

Am Ende des Spiels in Bochum ist eine Menge auf Sie eingeprasselt, die Spieler des F.C. Hansa haben ihnen gut zugeredet endlich abzupfeifen – aber Sie hatten noch Spaß an dieser Partie und waren die Ruhe in Person…

Dr. Markus Merk: (Lacht) "Naja, das ist ja die Grundeigenschaft, die man mitbringen muss, wenn man als Schiedsrichter auf dem Platz steht. Man muss, wie auch in anderen Situationen im Leben, den Überblick behalten und das macht man am besten mit Ruhe. Ich empfinde es als absolutes Privileg, dass ich mein Schiedsrichter-Leben auf so hohem Niveau ausüben durfte, nie als Belastung. Es ist schon so, dass es einen Schiedsrichter auszeichnet, dass er in hitzigen Spielsituationen der ruhigste Pol im ganzen Stadion ist, wohlwissend, dass das gesamte Umfeld unfassbar emotional ist. Als Schiedsrichter wirkt man nach außen manchmal ein bisschen wie jemand aus der Schublade „eigenwillig“. Aber wer mich persönlich kennt, der weiß wie hochemotional ich selbst im Leben manchmal bin und das gerade im Sport. Aber gerade in wichtigen Spielen ist es wichtig das Ruder in der Hand zu behalten und beruhigend zu wirken und das ist mir, glaube ich, über weite Strecken meiner Karriere ganz gut gelungen."

Können Sie sich noch andere Begebenheiten rund um das Spiel erinnern?

Dr. Markus Merk: "Ja, ich kann mich sogar noch sehr gut an die Situation vor dem Spiel erinnern. Wir hatten ein Hotel unmittelbar am Bahnhof. Wir sind dann sogar noch etwas früher abgeholt worden als vereinbart, um ins Stadion gebracht zu werden. Und der Betreuer vom VfL Bochum fährt los und wir sind mitten drin in der Masse der Hansa-Fans, die gerade am Bahnhof angekommen ist und gemeinsam zu Fuß ins Stadion gepilgert ist. Wir hatten überhaupt keine Chance, fix durchzukommen. Die Polizei hat uns am Ende eskortiert und wir kamen trotzdem unfassbar spät im Stadion an. Aber dieses Bild, dass da Tausende die Farben ihres Vereins tragen und zu einem Auswärtsspiel fahren und die Hoffnung haben, „wir schaffen das heute“, das ist mir bis heute in sehr guter Erinnerung. Das hat für mich mehr Wertigkeit gehabt, als am Ende die 90 Minuten das Spiel zu pfeifen."

Haben Sie sich eigentlich die wichtigsten Szenen nach dem Spiel noch mal angesehen? Da gab es ja einige heikle Szenen. Bei Hilmar Weilandts Foul vor dem Freistoß, der zum 2:1 für Bochum führt, hätten man – um mit Ihren Worten als Sky-Experte zu sprechen – durchaus auch über rot nachdenken können?

Dr. Markus Merk: "Nein, habe ich ehrlich gesagt nicht, jedenfalls kann ich mich nicht dran erinnern (lacht). Mein Leben war zu der Zeit sehr intensiv, die Jahre sind wie im Flug vergangen und die Saison war für mich in den meisten Fällen am 34. Spieltag der Bundesliga noch nicht zu Ende. Es gab damals wohl kaum jemanden, der mehr im Fußball unterwegs war, als ich. Man versucht zu reflektieren, weil man ja nicht irgendwo in der Blackbox lebt, aber jedes Spiel kann man im Nachhinein gar nicht analysieren. Ich weiß noch, dass es in dem Spiel eine Situation gab, wo durchaus auch rot berechtigt gewesen wäre, aber die Situation nachstellen könnte ich jetzt nicht mehr. Ich denke aber mal, dass rund um Rostock da niemand böse war, dass ich nicht rot gezogen habe. Aber ich muss auch zugeben, dass man nicht immer alles behält."

Es gibt tatsächlich Spiele, die Ihnen nicht mehr so in Erinnerung sind?

Dr. Markus Merk: "Ja, aber das ist bei 20 Jahren Bundesliga und 18 Jahren internationalem Fußball auch völlig normal. Vergangene Woche waren bei uns in der Redaktion von „Sky“ zwei junge Kollegen, die für die Gesamtleitung der Sendung verantwortlich sind. Und einer davon erzählte mir, dass er gerade in Barcelona bei einem Spiel war und dass dort alles so toll war. Er fragt mich, ob ich auch schon mal da war und ich sage: „In Barcelona war ich achtmal, aber unten auf dem Spielfeld“. Und dann war nur noch Schweigen in der Runde. Aber andererseits passieren mir auch ganz andere Geschichten. Ich bin vor zwei Monaten umgezogen und ich mache danach nur eine einzige Kiste auf. Und da liegt ein Andenken-Teller an das Spiel Celtic Glasgow gegen AC Mailand ganz oben. Ich habe die Kiste gleich wieder zugemacht… Wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich das Spiel Celtic gegen AC Mailand gepfiffen haben, würde ich sofort sagen: „Nein! Celtic gegen Barcelona habe ich ein paar Mal gepfiffen, aber Celtic gegen AC Mailand nicht einmal“. Aber das ist es, was ich meine, dass es ein riesiges Privileg war, so viele Jahre auf diesem Niveau unterwegs gewesen zu sein. Was ich alles erleben durfte, das reicht bei vielen Spielern für zwei Karrieren. Fritz Walter (Kapitän der Weltmeister-Elf 1954 und Vereins-Legende beim 1. FC Kaiserslautern, in dem auch Merk Mitglied ist) war ein guter Freund von mir und der hat mir vor allem eines im Leben mitgegeben: Demut. Demut vor dem was man macht und deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass ich das alles erleben durfte."

Jetzt steht das Spiel "20 Jahre das Wunder von Bochum" in Rostock an. Etliche Spieler von damals werden dabei sein. Bei Hansa sind es zum Beispiel die Torschützen Oliver Neuville, Victor Agali und Slawomir Majak, bei Bochum sind es so klangvolle Namen wie Maurizio Gaudino oder Mehdi Madavikia. Freuen sie sich darauf, das eine oder andere Gesicht mal wieder zu sehen?

Dr. Markus Merk: "Ich habe 2008 Jahr, ein Jahr vor der berühmt berüchtigten Altersgrenze, freiwillig aufgehört. Und ich habe damals gesagt, ich werde nur ganz selten und ausgesucht zur Pfeife greifen, weil für mich die Jahre im Leistungssport so intensiv waren. Die Anfragen danach waren unglaublich, in den ersten Jahren waren es wirklich mehrere hundert, die ich alle abgelehnt habe. Ich habe seit meiner aktiven Zeit ganze fünf Spiele gepfiffen – und das erste war das Abschiedsspiel für Olli Kahn, weil es auch mein eigenes Abschiedsspiel war, ansonsten nur ausgewählte Benefiz-Spiele. Das letzte Mal war vor zwei oder drei Jahren die Eröffnung des neuen Nationalstadions in Kuwait. Und als die Anfrage aus Rostock jetzt kam, habe ich gleich Gefallen dran gefunden. Es ist ein schöner Zufall, dass der Termin passt, weil ich am Abend vorher in Berlin beim DFB-Pokalfinale bin. Ich habe eine Veranstaltung dort und werde mir natürlich auch das Spiel anschauen und dann am Sonntag ganz gemütlich mit meiner Frau an die Ostsee fahren und mich auf das Spiel freuen. Es gibt, und das ist jetzt nicht so daher gesagt sondern Realität, keine andere Stadt und keinen anderen Verein, den ich in den vergangenen 25 Jahren mehr verfolgt habe, als Rostock. Durch meine Tätigkeit als Referent bin ich nahezu jedes Jahr in Rostock und habe so die Entwicklung der Stadt mitverfolgen können. Und aus diesem Grund habe ich gesagt, dass ich bei dem Spiel und den prominenten Namen gern dabei bin."

Unser Eventmanager Olli Schubert, der 1999 für den Radiosender ANTENNE MV live vom Spiel in Bochum berichtete, hatte damals in seiner emotionalen Reportage angekündigt, dass er Sie jeden Tag in Ihrer Zahnarzt-Praxis aufsuchen würde, wenn Sie endlich das Spiel abpfeifen würden. Ist er eigentlich jemals bei Ihnen vorstellig geworden?

Dr. Markus Merk: "Nein, der war nie da! Das ist eigentlich sehr verwerflich, etwas zu versprechen und dann nicht einzuhalten (lacht). Aber ich weiß, dass er beim Jubiläums-Spiel dabei sein wird. Ich habe zwar 2004 meine Praxis verkauft, aber ich habe mein altes Zahnarztbesteck noch und werde es mitbringen. Und dann werde ich in der Halbzeitpause auf dem Mittelpunkt eine Wurzelkanalbehandlung vornehmen, die wir live übertragen können. Das wird für alle ein großer Spaß, nur für den Reporter mit schmerzverzerrtem Gesicht nicht."