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27.06.2024 09:22 Uhr

Mit dem Möbelwagen an den Hort der Emotionen

Heute (27. Juni 2024) feiert das Ostseestadion sein großes Jubiläum - 70 Jahre steht das "alte Haus" jetzt im Herzen Rostocks. Wie hat alles angefangen? Wir schauen zurück auf den Anfang der großartigen Geschichte. Ende des Zweiten Weltkriegs und es herrscht Aufbruchstimmung auch in Rostock. In der Stadt steht eine in den 1920er- Jahren erbaute Sportanlage auf dem Barnstorfer Sandkuhl: Das Volksstadion, das angeblich ein Fassungsvermögen von 20 000 Zuschauern hat. Für arrivierte Vereine viel zu groß, für die Ambitionierten deutlich zu klein. Also? Neues Stadion. Aber wo? Auf dem einst von den Nationalsozialisten angelegten Aufmarschplatz am Barnstorfer Wald. Und wie? Freiwillige Arbeit der Bevölkerung. In Zahlen: Mehr als 236 000 geleistete Arbeitsstunden bringen eine Ersparnis von fast einer Million Deutscher Mark. Effekt? Das Ostseestadion wird die beste Sportarena der DDR und bleibt es bis nach der politischen Wende.

F.C. Hansa Rostock

Neues Stadion, keine Mieter

Am 27. Juni 1954 wird das Ostseestadion offiziell mit relativ belanglosen Nachwuchsvergleichen eröffnet. Lohnte dafür eine vierjährige Schinderei? Knapp drei Monate später trägt die DDR-Nationalmannschaft ein Länderspiel gegen Polen (0:1) vor ausverkauftem Haus (25.000) aus. Und sonst? Die Situation in der jungen Republik stellt sich so dar: Im Süden, rund um Zwickau, gibt es vier Oberligamannschaften. Im Norden steht ein neues Stadion ohne Mieter. Rostock spielt 1954 im Fußball eine marginale Rolle und damit konträr zu seiner Reputation als aufstrebender Wirtschaftsstandort, der mit der Hafenentwicklung und dem neuen Fischkombinat ein Problem in die Wahrnehmung wuchtet: Wer bespaßt eigentlich die eifrigen Werktätigen am Feierabend? Der 27-jährige Harry Tisch, Vorsitzender des Rates des Bezirkes, lässt die Mannschaft des erzgebirgischen Vereins Empor Lauter über Nacht nach Rostock verpflanzen. Die Lauterer Fußballer bocken vehement, so dass ihnen, quasi als Weichmacher, eine Busreise an den Gestaden der Ostsee die Schönheit der Heimat abseits der erzgebirgischen Hänge illustriert. Die Lauterer Einwohner werden unter Polizeiaufsicht daran gehindert, die Möbelwagen der Fußballer umzuschmeißen. Der Umzug der Mannschaft vollzieht sich am 26. Oktober 1954. Am 14. November heiligen 17.000 Zuschauer im Ostseestadion beim 0:0 gegen Chemie Karl-Marx-Stadt die Zuwanderer. Die aber werden noch über Jahre hinter den Bergen als Verräter gegeißelt. SK Empor heißt die neue Mannschaft. Im Pokalfinale in Leipzig gegen Vizemeister Wismut Karl-Marx-Stadt verliert Empor mit 2:3. Die Übergangsrunde 1955 mit dem zweiten Platz taugt als Etikettenschwindel. Eine Serie später steigt Empor aus dem Oberhaus ab! Als der Klub zurückkehrt, hat unter Trainer Heinz Krügel der folgende Platz 7 durchaus Gewicht. Nur noch der Slang verrät die einstige Herkunft der Mannschaft.

Erst 1968 – und die Spieler mutierten inzwischen von "Hanghühnern" zu "Fischköppen" – ist das Stadion fertig. Doch Hansas legendäre Europacup-Spiele werden noch bei Tageslicht absolviert. Zwei Jahre darauf ist eine Flutlichtanlage installiert, die am 23.10.1970 gleißend eine mitreißende Oberligapartie Hansas ins rechte Licht stellt: 3:0 gegen den 1.FC Magdeburg.

Rumms! macht es und dann ist das Stadion dunkel. Im Spätsommer 1985 schlägt bei einem Gewitter der Blitz in einen Flutlichtmast. Als die Lampen wieder strahlen, gehen auch bei Hansa und Rot-Weiß Erfurt die Lichter an: 3:3 in einem irren Spiel. Die 1973 errichtete Anzeigetafel kündet davon.

F.C. Hansa Rostock

Wildwasser-Kanu in Stromschnellen

Hansas Leistungen sind wie ein Seismograph für die Fans. Entweder bleiben die weg, wenn sich die Mannschaft zweitklassig über die Chausseen nach Trinwillershagen oder Anklam müht, oder strömt in Scharen herbei, wenn auf der Kogge die Segel blähen. Es mutet wie ein Geniestreich an, dass Hansa im allerletzten Oberligajahr 1991 Meisterschaft und Pokal gewinnt. Gleichzeitig ist der Einzug in die Bundesliga perfekt. Da lässt sich auf der neuen Stadion-Bestuhlung mit Kunststoffschalen gleich gut sitzen. Im vereinten Deutschland fährt die Kogge im Profifußball mit. Das ist wie Wildwasser-Kanu in Stromschnellen. Die Rostocker sind im Sommer 1991 in ihrer ersten Bundesligasaison nach zwei Siegen (Nürnberg 4:0, in München 2:1) Tabellenführer. Doch die Gefahr in der Liga lauert überall. Unten an Bord sitzt heimlich der Klabautermann und zieht den Stöpsel aus der Kogge. Prompt steht bald den Kickern das Wasser bis zum Hals und sie steigen ab.  Die neue computergesteuerte Großanzeigetafel offeriert alles! Das hätte auch anders gehen können, mutmaßen die Verantwortlichen. Als Hansa 1996 wieder im Oberhaus flaniert, wird den Spielern nicht nur warm ums Herz, sondern auch an den Füßen: Rasenheizung! Vier Jahre später wird das Stadion in nur 16 Monaten zu einer reinen Fußballarena umgebaut. Seine Einweihung am verregneten 4. August 2001 gegen Bayer Leverkusen (0:3) taugt nicht zum Orakel.

Nomen Est Omen

Der ganze futuristische Schnickschnack (LCD-Anzeigetafel, neue Scheinwerfer, Hochleistungslautsprecher, etc.) takelt das Stadion weiter auf. Es hieß seit 2007 DKB-Arena. Ist da irgendwo noch Tradition drin oder behält Kommerz die Oberhand? Acht Jahre später, nach Intervention der Fangemeinde, erhält das Ostseestadion seinen Namen zurück und hat eine bekannte Adresse für den Hort der Emotionen. Die Kogge dümpelt im seichten Wasser der dritten Liga und hievt sich dann 2021 wie im Schiffshebewerk eine Etage höher. Und so sehr ihnen tausende Anhänger auch die Tampen halten, geht sportlich die Crew trotzdem 2024 wieder unter - ausgerechnet im "Jubiläumsjahr", was aber auch wieder irgendwie tragisch komisch zu Hansa passt... Aber die Fangemeinde greift vereint der leckgeschlagenen Kogge unterm Kiel. Demnächst wieder!

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